Heute schimmert oben auf der Blüemlisalp das Eis. Meterhoch türmt es sich auf den Gipfeln und fließt bis weit herunter auf die Hänge. Das war nicht immer so. Vor langer Zeit war die Blüemlisalp im Berner Oberland bis hinauf zum Blüemlisalphorn auf über 3.600 Meter über dem Meer mit Almen und Wiesen bedeckt.
Schon im März trieben die Bauern ihre Kühe hinauf auf die Wiesen. Sie feierten ein großes Fest, wenn die Senner mit den Kuhherden auf die Blüemlisalp zogen und die Sennhütten wieder in Betrieb nahmen. Für die Senner und Sennerinnen bedeutete das aber harte Arbeit. Zuerst mussten sie die großen Gruben ausputzen, damit sie die Milch auffangen konnten. So viel Milch gaben die Kühe, dass man Boote brauchte, um den Rahm abzuschöpfen. Das war auch kein Wunder, hatten die Kühe doch Zitzen über den ganzen Bauch und mussten viermal am Tag gemolken werden. Das war eine furchtbare Schinderei, aber es war auch eine sehr gut bezahlte Arbeit. Verdiente eine Magd oder ein Knecht sonst gerade einmal Unterkunft und Essen, wurden die Senner auf der Blüemlisalp mit Gold bezahlt.
Butter und Käse türmten sich in großen Scheunen, und es gab so viel davon, dass man selbst die Wagenräder aus Käse machte und Treppen aus Butter baute, man wusste einfach nicht, wohin mit dem ganzen Essen. Man hätte das Essen verschenken können, aber das wollten die Bauern nicht. Sie ließen den Käse und die Milch lieber verkommen.
Die Feen im Berner Oberland sahen diesem Treiben lange zu. Sie hatten das Land gesegnet, und nur durch ihren Zauber gediehen die Kühe so prächtig und gaben so viel Milch. Die Bauern wussten es ganz genau. Nur wenn sie von ihrem Überfluss und ihrem Reichtum etwas an die Armen weitergaben, würde der Segen anhalten.
Vielleicht, so dachten die Feen, ist das in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten, und wir müssen die Menschen wieder daran erinnern. So warteten die Feen bis in den Herbst, bis zum großen Erntedankfest. Das schien ihnen der richtige Zeitpunkt.
Die Senner rollten große Käse ins Freie und türmten sie auf. Die Sennerinnen und Mägde formten große Butterkugeln und schichteten sie zu Pyramiden. Dann stellten sie die Kegel auf, und das Spiel konnte beginnen. Der reichste Bauer nahm die erste Butterkugel und warf sie über die Bahn. Alle neun Käsekegel fielen. Schon stand der nächste bereit und schickte die nächste Kugel über die Bahn. Jedes Mal, wenn eine Kugel alle Neune traf, spielte die Kapelle einen Tusch.
Vom Eiger und von der Jungfrau aus beobachteten die Feen das Treiben auf der Blüemlisalp, und es gefiel ihnen gar nicht. An der Butter, die hier verschwendet wurde, hätte eine ganze Stadt mehr als ein Jahr genug gehabt. Am Ende des Festes würden die Senner den Milchsee einfach auslassen. Tausende Liter Milch würden im Almboden versickern.
Mit einem Mal standen die Feen unter den Menschen. Eine von ihnen trug ein Kind auf dem Arm, und als das Kind das Kegelspiel sah, wollte es näher heran. So drängte sich die Fee mit dem Kind ein wenig nach vor.
Da ging es hoch her. Eine Kugel nach der anderen flog über die Bahn, und es gab Gelächter, wenn eine Butterkugel ihr Ziel verfehlte, und Jubel, wenn sie traf. Einer der Bauern hatte da besonderes Pech. Er spielte schon seit Stunden, und er verlor. Jeder Schub ging daneben, und sein Geld schwand langsam aber sicher dahin.
Die Wut packte ihn. Es konnte doch nicht sein, dass gerade er solches Pech hatte. Diese verdammten Butterkugeln. Sicher waren die daran schuld. Zornig drehte er sich um und sah in die Runde.
„Wenn eine Butterkugel mir kein Glück bringt, dann versuche ich es einmal mit einer beinernen“, sagte er und riss der Fee das Kind aus der Hand. Schneller als jemand schauen konnte, schlug er dem Kind den Kopf ab und warf damit nach den Kegeln.
Die Feen standen wie erstarrt. Als sie das tote Kind am Boden liegen sahen, kannte ihre Wut keine Grenzen. Ihre Schreie gellten über die Berge, und wer sie hörte, erstarrte zu Stein. Keiner entkam. Die Bauern, die Mägde und die Senner stürzten zu Boden, krümmten sich, und aus ihren Herzen wuchs der Fels, der sie bald durchdrang und für immer auf die Almen bannte.
Ein Eissturm zog auf und trieb düstere Wolken vor sich her. Schneeregen setzte ein, und mit einem Schlag fiel der Frost über die Berge her. Ein Orkan überzog die Wiesen mit Eis. Schnee fiel tage- und wochenlang, bis alles unter dem Gletscher verschwunden war. Kein Haus und kein Weg blieb verschont.
So wurde aus der blühenden Alm eine Eiswüste, ein Gletscher, der nun seit mehr als fünfhundert Jahren die Gipfel bedeckt. Aber es scheint, als würde der Zorn der Feen allmählich nachlassen, denn das Eis schmilzt. Die riesigen Gletscher auf der Blüemlisalp, der Jungfrau und dem Eiger ziehen sich zurück. Reichten sie vor hundert Jahren noch fast bis ins Tal, so muss man heute weit hinaufsteigen, um das Eis zu finden. Um bis zu zwei Kilometer sind die Gletscher geschrumpft und geben nach und nach die Almen wieder frei.
Freilich sind es Steinwüsten, Bergtäler und Hänge, glattgeschliffen vom Eis. Doch in wenigen Jahren könnten hier schon die ersten Gräser wachsen, und wenn das Eis lange genug wegbleibt, dann werden hier auch wieder Almen entstehen.
Vielleicht ist der Zorn der Feen aber gar nicht abgeklungen. Vielleicht ist das Schmelzen der Gletscher nur eine neue Strafe.