Wenn heute jemand den Bundespräsidenten im Leopoldinischen Trakt der Hofburg besuchen will, so muss er über die sogenannte Adlerstiege hinauf in die Präsidentschaftskanzlei steigen. Die meisten Gäste, ob Politiker, Künstler oder Schüler, werden sich wohl kaum große Gedanken um den Namen dieser Stiege machen. Dabei soll der seltsame Name an eine ebenso seltsame Geschichte erinnern.
Es war am frühen Morgen des 23. Mai 1706. Kaiser Joseph I. stand an einem Fenster in der Hofburg, tief in Gedanken und müde von einer durchwachten Nacht. Im fernen Belgien kämpften seine englischen Verbündeten gegen die Franzosen. Von dieser Schlacht bei Ramillies hing vieles ab. Nur wenn die englische Armee unter John Churchill, dem ersten Grafen von Marlborough siegte, gab es noch Hoffnung, dass die spanischen Niederlande doch noch an das Habsburgerreich fallen würden.
Prinz Eugen von Savoyen, auf dem die große Hoffnung des Kaisers ruhte, kämpfte zur gleichen Zeit in Italien, und dort sah es gar nicht gut aus für die kaiserlichen Truppen. Das Schicksal des Reiches stand wieder einmal auf Messers Schneide.
Gern hätte sich Kaiser Joseph an den geheimen Wahlspruch seines Hauses gehalten: Bella gerant alii, tu felix Austria nube – Mögen die anderen Kriege führen, du glückliches Österreich, heirate.
Angeblich hatte Matthias Corvinus, der Ungarnkönig, diesen Spruch im 15. Jahrhundert geprägt. Nett gemeint hatte Corvinus das nicht. Eigentlich wollte er damit sagen, die Habsburger seien zu feige, um zu kämpfen, und scheuten das Schlachtfeld.
Man kann viel über Joseph I. sagen, aber dass er den Krieg scheute, das ganz bestimmt nicht. Seine Regierungszeit kannte den Frieden kaum, und Joseph ritt auch selbst in den Kampf. So machte ihn die Untätigkeit, die Machtlosigkeit dieser Nacht und dieses anbrechenden Tages nervös.
Immer noch starrte er aus dem Fenster der Hofburg. Er hörte gar nicht, was seine Berater ihn fragten. Er starrte ins Leere, und dann sah er über den Dächern der Stadt eine schwarze Silhouette. Ein Vogel näherte sich der Hofburg. Ein Adler.
Noch nie hatte der Kaiser einen Adler in Wien gesehen. Jetzt zog der Raubvogel eine Schleife über dem Leopoldinischen Burgtrakt, flog ganz nahe am Kaiser vorbei und ließ sich auf dem Rasen direkt vor dem Fenster nieder. Der Kaiser und der Adler sahen einander in die Augen. Nur eine halbe Minute dauerte diese Begegnung, dann hob der Adler vom Boden ab und flog davon.
Der Kaiser atmete auf. Nun wusste er, die Schlacht von Ramillies war gewonnen. Lächelnd drehte er sich um und empfing den Boten, der ihm die Siegesnachricht brachte.